Aus dem Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus mit dem Titel “ Perspektivwechsel. Nachholende Gerechtigkeit. Partizipation.“ Beauftragt durch das Bundesministerium des Inneren, für Bau und Heimat.
Aufarbeitung und Perspektivwechsel in der Wissenschaft
Die Unabhängige Kommission Antiziganismus empfiehlt …
• dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eine gezielte und umfassende Förderung von Roma und Sinti in Studium und Wissenschaftsbetrieb, damit ihre Perspektiven im Rahmen eines kritischen Diskurses innerhalb der Wissenschaft eingebracht werden können. Dies ist notwendig, um antiziganistische/rassistische Deutungsmuster in der Wissenschaft zu überwinden. Neben Stipendienprogrammen ist dafür die aktive Öffnung der und Unterstützung durch die scientific community notwendig. Wissenschaftliche Studien, an denen qualifizierte Roma und Sinti in verantwortlichen Positionen beteiligt sind, sind verstärkt zu fördern.
• den Universitäten, Hochschulen, Instituten und sonstigen Forschungseinrichtungen eine wirksame und öffentliche Aufarbeitung des Wirkens von NS-Täter:innen sowie Wissenschaftler:innen, die in der Bundesrepublik an die NS-Rassenforschung an Roma und Sinti anknüpften. Die Beteiligung von Wissenschaftler:innen an NS-Verbrechen an Roma und Sinti , die in der Bundesrepublik Deutschland ihre Karrieren fortsetzten, muss nicht nur untersucht werden, sondern auch Konsequenzen im Hinblick auf akademische Grade und akademisches Ansehen haben. • der Humboldt-Universität Berlin und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die Überprüfung der akademischen Titel von Eva Justin und Sophie Ehrhardt in formalrechtlicher, wissenschaftlicher und wissenschaftsethischer Hinsicht und gegebenenfalls deren Aberkennung. Aufgrund des hohen Grades der Beteiligung am NS-Völkermord sowie ihres langjährigen Fortwirkens in der Bundesrepublik wären dies erste
beispielhafte Schritte. Daher wird empfohlen, Kommissionen einzusetzen, die sich diesen Fragen widmen.
• eine umfassende Aufklärung über das langjährige Wirken des ‚Zigeunerforschers‘ Hermann Arnold in seinen institutionellen Bezügen und mit seinen negativen Folgen für Roma und Sinti . Zu prüfen ist insbesondere, a) die Habilitation Arnolds unter formalrechtlichen, wissenschaftlichen und wissenschaftsethischen Gesichtspunkten; b) inwiefern Hermann Arnold seinen Status als Leiter des Staatlichen Gesundheitsamtes in Landau und dessen Ressourcen für seine privaten Forschungen missbräuchlich einsetzte; c) welche Auswirkungen das Wirken Hermann Arnolds als Berater für Bundesministerien hatte; d) welche Auswirkungen die Tätigkeit der „Arbeitsgruppe Landfahrer“ im Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge für Roma und Sinti hatte. Der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge sollte sich an einer Aufarbeitung beteiligen und sein Archiv zugänglich machen.1565
• dem Bundesministerium für Justiz die umfassende Aufklärung des Ausmaßes der Gutachtentätigkeit vormaliger NS-Täter:innen und derjenigen, die an die rassistischen Paradigmen anknüpften. Dies betrifft vor allem die Gutachtentätigkeit in Wiedergutmachungsverfahren. Entscheidungen in Wiedergutmachungsverfahren, die auf Aussagen und Gutachten dieses Personenkreises beruhen, sind für nichtig zu erklären. Betroffene beziehungsweise deren Erb:innen sind zu entschädigen.
Stärkung antiziganismus-/rassismuskritischer Wissenschaft
Die Unabhängige Kommission Antiziganismus empfiehlt …
• dem BMBF sowie weiteren wissenschaftlichen Förderinstitutionen und Stiftungen in der Bundesrepublik Deutschland, allen voran die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Förderlinien zu „Antiziganismus in der Wissenschaft“ in allen Disziplinen aufzustellen. Ein besonderer Schwerpunkt sollte in den Wissenschaften, die an die Anthropologie vor 1945 (Rassenforschung, Rassenhygiene, Rassenbiologie) anknüpfen, gebildet werden. Dabei ist eine Repräsentation von Angehörigen der Minderheit in Forschungsprojekten besonders zu fördern. Universitäten und außeruniversitäre Institute sollten das Thema in Forschung und Lehre stärker berücksichtigen und mehr Qualifikationsarbeiten und Forschungsprojekte in diesem Themenfeld umsetzen. Stiftungen und andere Förderinstitutionen sind aufgefordert, hierfür ebenfalls Mittel bereitzustellen.
• den Ausschluss von rassistischer/antiziganistischer Wissenschaft und Forschung in Förderprogrammen. Die wissenschaftlichen Förderinstitutionen der Bundesrepublik Deutschland, allen voran die DFG, müssen ihrer historischen Verantwortung gerecht werden und für einen Paradigmenwechsel eintreten. Für die Begutachtung von Anträgen mit Bezug z
u Roma und Sinti sollte ein Gutachter:innenkreis gebildet werden, der über einschlägige rassismus- und antiziganismuskritische Expertise verfügt.
• dem Wissenschaftsrat im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung die Entwicklung und Umsetzung eines Konzeptes für die Institutionalisierung antiziganismuskritischer Wissenschaft und Forschung im deutschen Hochschulsystem. Dabei sind Professuren und Institute, insbesondere in den Bildungs-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, zu konzipieren. Bei der Konzeption ist der Einbezug von communitybasierter Expertise sicherzustellen. In der Umsetzung ist zu beachten, dass Positionen bevorzugt mit Personen mit eigenen Antiziganismuserfahrungen besetzt werden.
Einhaltung und Entwicklung von communitybasierten Forschungsstandards
Die Unabhängige Kommission Antiziganismus empfiehlt …
• einen Perspektivwechsel im Hinblick auf wissenschaftliche Studien zu Roma und Sinti insbesondere vor Hintergrund bisheriger Forschung. Theoretische und methodische Ansätze, die historisch-kritisch verankern, gesellschaftspolitisch kontextualisieren und macht- und rassismussensibel den gesamten Forschungsprozess und dessen Ergebnisse reflektieren, sind zu stärken. Der spezifische Rassismus gegen Roma und Sinti muss in seiner historischen Dimension und den lebensweltlichen Auswirkungen in jegliche Forschung einbezogen werden.
• die Durchsetzung der Einhaltung der Prinzipien der „Informierten Einwilligung“ und das der „Nicht-Schädigung“ sowie des besonderen Datenschutzes für alle Forschungen und Datenerhebungen zu Roma und Sinti . Dafür muss es eine regelhafte Überprüfung von Forschungsvorhaben auf Ethik geben sowie bei größeren Forschungsprojekten die Einrichtung von Befragtenbeiräten.1566 Gleichzeitig sollen die Institutionen, die für Datenschutz und Diskriminierungsbekämpfung zuständig sind, sowohl Roma und Sinti als auch ihre Organisationen besser über die juristischen Möglichkeiten in Deutschland informieren, mit denen Betroffene gegen missbräuchliche Erhebungen vorgehen können.
• der Bundesregierung die Einrichtung einer Nationalen DNA-Ethikkommission,1567 die interdisziplinär (für forensische, medizinische und kommerzielle Anwendungen) sowie mit Selbstorganisationen aus den vulnerablen Gruppen besetzt wird. Deutschland ist der Staat, der in der Vergangenheit wie kein anderer rassistische Ideologien in genozidale Politik überführt hat. Vor diesem Hintergrund steht die Bundesrepublik heute in einer besonderen Verantwortung, in den europäischen Wissenschaftsgremien ihren Einfluss geltend zu machen und dafür Sorge zu tragen, dass bei genetischen Forschungen an besonders vulnerablen Gruppen wie Roma und Sinti die Einhaltung höchster ethischer Standards gewährleistet ist und Verstöße dagegen wirksam sanktioniert werden, etwa durch künftige Nichtberücksichtigung bei der Vergabe von Fördergeldern.
Wir haben Genderungen durch die Volksbezeichnung „Roma und Sinti“ ersetzt. Zur Begründung:
- Es wird auch nicht im Ursprungsbericht überall gendergerecht formuliert.
- Der Bericht weist auf die kontroverse Diskussion zur Genderung hin.
- Wir möchten als Volk wahrgenommen werden. Als Individuen kann uns jeder gerne in unserer Vielfalt kennenlernen.
- Wenn es wirklich konsequent um Genderung geht, müsste man auch „Franzosen und Französinnen“ als „Femme et Homme“ formulieren. Bitte verstehen Sie diese Absurdität.
- Wir bevorzugen generell die Verwendung einer geschlechtsneutralen Form in der Sprache des Romanes.